Ein Mann rasiert sich
Ganz vorsichtig bewegt der Mann seine rechte Hand, welche eine Rasierklinge hält, auf- und abwärts, so daß die Rasierklinge seine Barthärchen unter dem Kinn berührt und abschneidet, ohne daß der Mann sich ins Fleisch schneidet und sich dabei fürchterlich wehtut. Es ist schon sieben nach acht! Und ich bin immer noch beim Rasieren, denkt der Mann. Allmählich beschleunigt er das Tempo, achtet nicht mehr so genau auf die Details, hält seinen Blick gebannt auf den Spiegel gerichtet, beugt sich vor, damit die Härchen ja ins Waschbecken und nicht auf den nassen Boden fallen, versucht, seine Barthaare in eine halbwegs symmetrische Form zu bringen. Immerhin ist heute ein ganz wichtiger Tag. Der Mann bewirbt sich um einen neuen Job und ist für heute zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Da muß man seriös und elegant wirken. Da ist ein Bart sicherlich das Letzte, was man gebrauchen kann. Und pünktlich muß man sein! In diesem Moment stellt der Mann durch einen abermaligen Blick auf seine Wanduhr fest, daß sich der Minutenzeiger um eins weiterbewegt hat. Du liebe Güte! Schnell noch ein paar Striche hier, ein paar Striche da, fertig ist der Teil des Barts unter der Lippe, kahl erscheint das Kinn des Mannes, nur an einigen wenigen Stellen sind mikroskopisch klein wirkende Härchen noch zu erkennen. Jetzt kommt der Teil des Barts ober der Lippe an die Reihe, jener Teil, der auch als Schnurrbart bezeichnet wird. Diesen mag sein möglicher neuer Chef besonders wenig, hat der Mann von einem Freund, der schon länger bei ihm angestellt ist, erfahren. Also schnell weg damit. Mist, die Härchen sind bereits zu lang, zu dicht, fällt dem Mann auf, die Rasierklinge tut nicht gut, weg damit, weg mit dem Mist, denkt der Mann und wirft sie in den Papierkorb, der praktischerweise unter dem Waschbecken angebracht ist. Der Mann öffnet die erste Schublade des Kästchens rechts neben seinem Waschbecken, vorsichtig und energisch zugleich, beugt sich hektisch über sein Inventar, greift in die Schublade, kramt ziellos herum, zuerst langsam, dann immer schneller, schneller, hektischer, flucht, wieviel Müll er in seiner Schublade habe, Klebebänder, Konfetti, noch mehr Rasierklingen, Scheren, Klebstoffe, Korken, Bierdeckel, ja, sogar lose Zigaretten und Feuerzeuge, ein paar vereinzelte Münzen, Büroklammern, kurz gesagt, alles, was man in einem Badezimmer nicht braucht. Ich nehme mir vor, diesen Saustall aufzuräumen, denkt der wutschnaubende, hysterische Mann, schade, daß meine Frau nicht hier ist, sie weiß vielleicht, wo der Rasierapparat ist. Da - wie durch ein Wunder taucht jener plötzlich vor den Augen des Mannes auf, griffbereit. Der Mann packt mit seiner kräftigen linken Hand zu, übergibt an die rechte, schließt die Schublade mit einem heftigen Knall, wendet seinen Oberkörper in Blickrichtung Waschbecken, Uhr, zehn nach acht, schon so spät, au Backe, dann fällt ihm ein, daß er den Rasierapparat ja noch anstecken muß. Also beugt er sich zur Steckdose, mit dem eigentlichen Rasierapparat in der rechten, dem Netzkabel in der linken Hand, kniet sich nieder, steckt den Stecker in die Steckdose, die sich unter dem Waschbecken befindet, erhebt sich hastig und stößt dabei mit dem Hinterkopf beinahe gegen das Waschbecken, freut sich, sofern dies in seiner miesen Laune möglich ist, Glück im Unglück gehabt zu haben, startet den Rasierapparat durch Drücken des Einschaltknopfs mit dem Daumen der rechten Hand und beginnt in aufrechter Haltung, den Oberlippenbart abzurasieren. Der Rasierapparat gibt dabei ein surrendes Geräusch von sich, welches noch schärfer wirkt, sobald er mit einem Barthaar kollidiert und dieses durchtrennt. Der Mann bewegt den Apparat von rechts nach links, setzt ihn, nachdem er das linke Bartende erreicht hat, von seinem Körper ab, bewegt ihn in der Luft abermals nach rechts, diesmal aber ein wenig nach unten, und beginnt die Prozedur von Neuem. Sanft und vorsichtig tut der Mann dies trotz seines hektischen Gemüts, denn er weiß genau, wenn er zu hektisch verfährt, kann er sich eine schlimme Wunde zufügen. Zumindest am Anfang hält er diese Vorgangsweise durch. Das ändert sich jedoch bereits beim nächsten Blick auf die Wanduhr, welche mittlerweile bei dreizehn nach acht angelangt ist. Der Mann flucht - ihr wißt schon, wie -, sein Temperament erhöht sich, ebenso die Geschwindigkeit der Bewegungen seiner Arme und Hände, während mit seiner Vorsichtigkeit das genaue Gegenteil geschieht. Und so kommt es, wie es kommen muß: Der Mann schreit auf, Blut fließt. Das Scherengitter des Rasierapparats ist geplatzt, und der Mann hat sich mit den scharfen Teilen ins Fleisch geschnitten. Schnell hastet der bedauernswerte Verwundete zur Steckdose, das heißt, er bückt sich so schnell wie möglich, zieht mit seiner freien linken Hand - die rechte hält ja noch immer den Rasierapparat - den Stecker aus der Steckdose. Das Surren des Rasierapparats beginnt, langsamer zu werden, bis es schließlich wenige Sekunden später, nach dem Aufbrauchen des Reststroms, vollends verschwindet. Der Verwundete hat den Apparat inzwischen in seiner verständlichen Nervosität fallengelassen und ist, ohne sich zu erheben, ein wenig zur Seite gerückt, um die Schublade öffnen zu können. Er hebt beide Arme in die Höhe, um von oben in die Schublade greifen zu können, zu wühlen nach seinem Wundesin, dem schnell wirkenden und einfach zu gebrauchenden Desinfektionsmittel. Daß diese Körperhaltung für eine derartige Aufgabe, nämlich, eine kleine Tube Wundesin aus einer höhergelegenen Schublade herauszufischen, recht unbequem ist, stellt der Mann nach einigen Sekunden selbst fest, was ihn veranlaßt, zu fluchen und sich zu erheben. Leider stößt er diesmal tatsächlich mit seinem Kopf gegen das Waschbecken, was seiner Stimme einen noch größeren Fluch entlockt, gepaart mit großen Schmerzen, die seine Denkfähigkeit beeinträchtigen. Der zwischen Nase und Oberlippe verwundete und Kopfschmerzen empfindende Mann rutscht mit seinem knieenden Körper nach hinten, um sich sicher aufrichten zu können, greift sich dabei mit seiner rechten Hand auf den Kopf und tastet vorsichtig die Oberfläche des Kopfes ab. Zum Glück kann er kein Blut, keine Wunde ertasten, und wie ihm sein untrügerischer Geruchssinn bestätigt, ist er zumindest auf dem Kopf nicht ernsthaft verletzt, obwohl, wie es dem Mann durch den Kopf schießt, sicherlich einige Tausende von Gehirnzellen draufgegangen sind. Egal, jetzt hat er sich um etwas Anderes zu kümmern, nämlich um seine Verletzung oberhalb der Oberlippe, und dazu braucht er Wundesin. Mit beiden Armen greift er in die Schublade, kramt, wühlt, fühlt, sieht dabei auf die Wanduhr und flucht, wie schnell sich der Minutenzeiger doch bewege, nimmt einen Gegenstand aus der Schublade heraus, stellt fest, daß es sich um eine Zigarettenschachtel und nicht um Wundesin handelt. Das aus der Wunde rinnende Blut hat mittlerweile sein Kinn erreicht. Mit der linken Hand versucht der Mann, es wegzuwischen, während er mit der rechten weiterhin nach dem Wundesin kramt. Da spürt er etwas! Volltreffer, denkt der Mann, und tatsächlich, er hat das Wundesin erwischt. Schnell öffnet er es mit der linken Hand, zumindest versucht er das, denn er muß feststellen, daß es sich nicht um einen Zieh-, sondern um einen Drehverschluß handelt. Der Mann flucht. Daß die Pharma-Produzenten es den armen Verletzten noch schwerer machen müssen, als sie es ohnehin schon haben! Der Mann dreht, dreht, dreht. Das Wundesin-Fläschen ist offen. Mit der rechten Hand dreht er das Fläschen um, so daß der Verschluß nach unten zeigt, die Wundesin-Flüssigkeit also rinnen kann, bewegt das Wundesin in Richtung Oberlippe, drückt, drückt, drückt, bis die Wunde ausreichend desinfiziert zu sein scheint. Sichtlich erleichtert schließt der Mann, der seine Kopfschmerzen anscheinend schon fast wieder vergessen hat, das Fläschen, stellt sie zurück in die Schublade, kramt relativ gelassen, als ob er seinen Termin schon vergessen hätte, bis er schließlich ein Pflaster in der Hand hält, das er über die Wunde klebt. Schön, denkt der Mann, bückt sich und nimmt eine Rasierklinge in die Hand, um den letzten Schliff zu tätigen. Als er damit fertig ist, was jetzt auch nicht mehr lange gedauert hat, weil die Mitte des Oberlippenbarts vom Pflaster überklebt und der rechte Teil bereits blank rasiert ist, betrachtet sich der Mann abermals im Spiegel und ist von seinem gepflegten Aussehen beeindruckt. Nur das Pflaster paßt nicht ganz in das "Outfit". Und als der Mann nach langer Pause einen letzten Blick auf die Wanduhr wirft... |